Peter Becker

Zauberhaftes Winteridyll: Der Spreewald präsentiert sich in der dunklen, kalten Jahreszeit als Ort der Stille. Die Touristen machen sich rar, die Natur gehört einem jetzt fast ganz allein. Aber nur fast. Denn in Lübbenau und Lehde zelebriert man ein ganz besonderes Weihnachtsevent. Text: Frank Störbrauck

Amy ist die Ruhe in Person. Sie hat bereits ihren Platz auf dem weihnachtlich geschmückten Kahn eingenommen. Gleich wird sie ihren Auftritt haben. Die 11-jährige, Schülerin der 5. Klasse der Werner-Seelenbinder-Grundschule in Lübbenau, ist hier und heute nämlich ein kleiner Star. Sie schlüpft während der Spreewaldweihnachtsfahrt mit dem Kahn in die Rolle einer Lutki und hält einige kurze Reden. Lutki? Das sind in der Spreewälder Sagenwelt die kleinsten Bewohner. Ihr Leben spielt sich unter der Erde ab, da sie – so sagt man sich – das Kirchengeläut nicht vertragen. Manchmal aber entspringen sie dem dunklen Erdreich und sprechen zu den Menschen.

Die kleine Lutki wartet neben ihrer Oma dick eingemummelt in einer Winterdecke darauf, dass alle Passagiere ihre Plätze eingenommen haben und Fährmann Wolfgang Fink seines Amtes waltet und den Kahn in Bewegung setzt. Rund zwei Dutzend Personen kann so ein Kahn mitnehmen. Vorn und hinter uns ist es ganz schön wuselig. Kahn um Kahn reiht sich auf den Fließ, 50 Stück sind es insgesamt, um die Gäste im Akkord vom Hafen in Lübbenau zum Weihnachtsmarkt im Freilichtmuseum Lehde zu bringen.

Auf den langgezogenen Tischen vor den gepolsterten Bänken liegen schneeweiße Deckchen. Darauf wurden Adventskränze, antike Holzlaternen und Körbchen mit Partyschnaps drapiert. Wem das dann doch ein wenig zu hochprozentig ist, muss nicht verzagen. Mit einer Kanne, gefüllt mit Glühwein, zwei Euro der Pappbecher, sollte es auch schnell gelingen, in weihnachtsmarkttaugliche Stimmung zu geraten.
Amy hält eine mittelalterlich anmutende Schriftrolle in ihren Händen, von der sie gleich kleine Anekdoten der Lutkis verlesen wird.

Nervosität ist ihr nicht anzumerken. Für eine 11-Jährige strahlt sie eine nahezu stoische Gelassenheit aus. »Einmal im Jahr darf ich das machen. Es macht mir Spaß, und ein wenig Geld verdiene ich ja auch damit«, sagt sie. Und dann legt sie auch schon los:

Meine erste Geschichte erzählt von meinem Volk. Sie lebten lange in der Nähe von Lübbenau und Burg. Ihre Sprache ist der von Menschen gleich, doch enthält sie Besonderheiten. Jede Aussage wird verneint. Und das klang dann so: Ich bin nicht zum Bauern gegangen, um kein Korn zu holen.

Die Lutkis sollen, so berichtet Amy weiter, den Armen geholfen haben. Sie buken für sie und haben sie damit vor dem Verhungern bewahrt.

Geheimnisvolle Atmosphäre im Spreewald

Derweil gleiten wir fast lautlos mit dem Kahn Richtung Lehde. Ein paar Stockenten schwimmen und schnattern zwischen den Kähnen. Anscheinend haben sie sich heute viel zu erzählen, angesichts der vielen Besucher, die zwischen den beiden Weihnachtsmärkten hin- und herpendeln. Es plätschert mild im Wasser, wenn die lange Holzstange von Fährmann Fink erneut vom Boden abstößt. Sonst herrscht Ruhe im winterlichen Spreewald. Hohe Erlen, Pappeln und Birken am Wegesrand versprühen eine geheimnisvolle Atmosphäre. Und wäre man hier nicht gemeinsam mit mehreren Hundert anderen Besuchern auf den Kähnen unterwegs, könnte man sich glatt vorstellen, dass gleich als einziger Mit-Anwesender Kommissar Thorsten Krüger aus dem ZDF-Spreewaldkrimi hinter einem Baum hervorlugt.

Nach dreißig Minuten sind wir am Ziel angekommen. Fährmann Fink steuert einen leeren Anlegeplatz an. Er scheint eher zu den ruhigen Vertretern seiner Zunft zu hören. Frotzeleien und Sottisen, wie sie Gondeliers gern einmal in Dauerschleife zum Besten geben, sind seine Sache nicht. »Ist in der Weihnachtszeit auch gar nicht nötig. Die Leute sind auch so einfach viel besser drauf«, sagt er nach Ende der Fahrt und verabschiedet sich auch schon wieder. Denn die Arbeit ruft – auf der anderen Uferseite wollen Besucher bereits die Heimfahrt antreten.

Besinnlicher Spreewaldwinter

»Zwei Märkte, eine Kahnfahrt« ist das Motto der Spreewaldweihnacht am ersten und zweiten Adventswochenende. Der eine Markt ist in Lübbenau, gleich neben dem Großen Fährhafen, der zweite im Freilandmuseum in Lehde. Die Adventssause ist einer der Höhepunkte im ansonsten sehr beschaulichen Spreewaldwinter. Denn das Gros der Touristen fällt im Sommer in den Spreewald ein, wenn alle Bäume und Pflanzen sattgrün um die Wette strahlen und man bei T-Shirt-Temperaturen dem Spreewald-Mythos auf die Spur gehen kann.

Die Tourismusverantwortlichen im Spreewald sehen das mit einem lachenden und weinenden Auge. Zwar sind die Spreewälder im Bundesland Brandenburg Spitze, wenn es um die Besucherzahlen geht: 713.000 Gäste besuchten die Region 2016. Aber das Gros der Gäste kommt eben im Sommer. Und so hat man in den vergangenen Jahren einige Kaninchen aus dem Winterhut gezaubert, um interessierten Spreewald-Touristen die Region auch in der kalten Jahreszeit schmackhaft zu machen.Amy hält eine mittelalterlich anmutende Schriftrolle in ihren Händen, von der sie gleich kleine Anekdoten der Lutkis verlesen wird.

Die Spreewaldweihnacht gehört ganz gewiss dazu – und ist eine kleine Erfolgsgeschichte.

Lehde, das »Lagunendorf im Taschenformat«, wie es einst der große Theodor Fontane nannte, präsentiert sich an diesem Tag bestens vorbereitet für die große Adventssause. Um es gleich vorweg zu sagen:

Es ist eine Reise in eine Zeit, die vor über 100 Jahren zelebriert wurde.

In einer Ecke wird den ganzen Tag Holz gehackt, in der anderen Körbe geflochten und in den Höfen und Stuben kann man »Bewohner« beim Spinnen und oder beim Zubereiten des Baumstriezels zusehen. Ganz am Ende des Marktes gibt es ein kleines Zelt – eine ältere Dame sitzt dort im Kreis mit Kindern und erzählt Märchen.

Nanu, wer ist denn das?

Dann plötzlich taucht eine verschleierte Person auf. Das Gesicht ist nicht zu erkennen. Es ist mit weißem Tüll verhüllt, ein Rosenkranz mit kleinen Weihnachtskugeln schmückt ihren Kopf. Gelb-rot-blaue Bänder und goldfarbene Ketten hängen herunter. In der anderen Hand hat sie ein kleines Bündel, in der anderen eine mit bunten Bändern verzierte Rute aus Reisig. Was bitte ist das? Das Bescherkind. So heißt das Christkind bei den Sorben. Dem Bescherkind zur Seite steht Knecht Ruprecht, der bei den Sorben Rumpodich heißt. Immerhin, Rumpodich tritt mit offenem Visier auf – und spricht mit mir. Meine anfängliche Sorge, dass es nun mit der Rute eine öffentliche Strafe für die Sünden des Jahres gäbe, ist schnell verflogen. Stattdessen streift mir das Bescherkind mit der Rute leicht über die Schulter. Es soll mir Kraft, Glück und Gesundheit für das bevorstehende neue Jahr geben, sagt Rumpodich, drückt mir eine Nuss in die Hand und zieht weiter.

www.spreewald.de

Zwei Stunden später, als sich die Nacht dunkel über die Buden und Stuben senkt und auch das Bescherkind zusehends verblasst, ist die Zeit des Aufbruchs gekommen. Um Punkt 17 Uhr legen die letzten Kähne Richtung Lübbenau ab. Wer zu spät kommt, den straft das Leben. Jedenfalls diejenigen, die nicht zu den Meistern auf Schusters Rappen gehören. Denn zurück geht es dann nur noch per Fackelwanderung entlang der winterlichen Fließe.

Die Spreewaldweihnacht wird 2018 am 1.12. und 2.12. sowie 8. und 9.12. zelebriert, und zwar im Freilandmuseum Lehde und am Großen Spreewaldhafen Lübbenau (03222 Lübbenau/Spreewald).