Lappland – Auf der Suche nach dem Licht
Eine Reise gen Arktis bedeutet die Hoffnung, Nordlichter sehen zu dürfen, Hundeschlitten zu fahren und im Iglu zu übernachten – oder? Ob für Autor Ralf Johnen diese Vision Wirklichkeit wurde? Text: Ralf Johnen
Trygve Nygard möchte uns möglichst exakt auf das vorbereiten, was uns in den kommenden Stunden erwartet. Deshalb nestelt er nervös an seinem Smartphone herum. Fest steht bisher: Es ist 19.02 Uhr an einem Februarabend. Wir befinden uns in geringer Entfernung zum 70. Breitengrad Nord. Und sitzen in einem Kleinbus, der uns durch die dunkle norwegische Nacht kutschieren wird.
So viel zu den berechenbaren Komponenten. Nach seiner kurzen Wetterrecherche kommt Trygve zu den Ungewissheiten: „Wir könnten bis hoch nach Hammerfest fahren“, sagt er. Bis zur nördlichsten Stadt der Welt sind es 124 Kilometer. „Aber wir versuchen es erst mal hier in der Nähe.“ Auch wenn das nicht ganz einfach sei. Schließlich sind einige Straßen gesperrt. Wegen des Sturms.
Eine halbe Stunde und einige Serpentinen später stehen wir auf einem Parkplatz mitten im Nirgendwo. Es ist stockfinster aber nahezu windstill. Als wir den Blick gen Firmament richten, aber können wir nicht einen einzigen Himmelskörper ausmachen. Also fahren wir weiter: An einen finsteren Fjord in gebührender Distanz zur Provinzhauptstadt Alta. „Hier“, sagt Trygve, „reißt es auch schon mal auf, wenn in der ganzen Finnmark schlechtes Wetter herrscht.“
Unsere Kameras aber zücken wir auch hier vergeblich. Wieder keine grünlich-weißen Schlieren, die sich bei entsprechender Langzeitbelichtung zu jenem Phänomen verdichten, wegen dem immer mehr Menschen im garstigen Winter den Weg in den äußersten Norden Europas auf sich nehmen. Wieder kein Polarlicht.
Trygve aber ist ein Kämpfer. Er resigniert nicht schnell. Lieber klammert er sich an die Statistiken: 87 Prozent seiner Kunden erhalten nach seiner eigenen Zählung Zertifikate, auf denen fünf Worte stehen: „I saw the Aurora Borealis.“
Wieder fahren wir einen Berg hinauf. Der wettergehärtete Norweger lässt nichts unversucht. Mit dem Fernlicht des Busses gibt er kryptische Morsezeichen von sich – seine Art mit einem Kollegen zu kommunizieren, der auf einem Nachbarberg in ähnlicher Mission unterwegs ist. An einer windgeschützten Stelle hält er den Bus an, spendiert eine Runde Kakao und packt demonstrativ sein Stativ aus. Seine Botschaft: Hier harren wir aus. Und wir werden Erfolg haben.
Um zwei Blätter Papier reicher, schmunzeln wir am nächsten Morgen über diese Episode. Auf unseren Fotos ist mit viel gutem Willen wenigstens ein zarter Hauch von Polarlicht zu sehen.
Wir haben Alta hinter uns gelassen und fahren erst in Richtung Süden, später nach Osten. Die Landschaft ist tiefgefroren. Doch obwohl die Schneedecke in diesem Teil der Provinz Finnmark nicht höher als 30 Zentimeter ist, wir Spikes unter den Rädern haben und die Straße sogar notdürftig von Schnee und Eis befreit ist, kommen wir uns vor wie Pioniere. Wir kennen niemanden, der um diese Jahreszeit schon so weit oberhalb des Polarkreises unterwegs war.
Wann immer wir dunkle Punkte in der gleißend hellen Landschaft sehen, drosseln wir das Tempo. Es könnten ja Elche sein, oder Rentiere. Während der knapp drei Stunden Fahrt nach Karasjok aber können wir uns keiner solchen Entdeckung rühmen. Doch Liv Engholm hat uns versprochen, dass sich das ändern wird.
Die blonde Mittdreißigerin hat sich darauf spezialisiert, Besucher mit dem arktischen Teil ihres Landes vertraut zu machen. In ihrer Freizeit unternimmt sie Skiultramarathons: 200 Kilometer in fünf Tagen. Mit 30 Kilo Gepäck. Heute jedoch macht sie uns mit John Hendrik Guttorn bekannt.
Er, den alle nur Heaika nennen, macht den Motorschlitten für unseren Ausflug parat. Gemeinsam wollen wir zum Lager der Familie fahren, weit ab von der Straße. Dort, wo die Rentierherde überwintern. Zuvor aber muss Heaika einen anderen nordischen Vierbeiner vertreiben – eine neugierige Elchkuh hatte sich an uns herangepirscht. Unsere erste Begegnung mit einem Vertreter dieser Spezies.
Heaika trägt einen Thermo-Anzug, so wie wir auch. Schließlich werden wir uns den ganzen Tag draußen aufhalten. Obwohl die fast zehn Wochen andauernde Polarnacht bereits vorbei ist, wagt sich die Sonne nur zaghaft über den Horizont hervor. Und auch wenn es heute nur –7 Grad sind, so ist uns doch bewusst, dass Karasjok mit –51,4 Grad den ewigen Kälterekord Norwegens hält.
Gut 20 Minuten heizen wir vorbei an knorrigen Birken und kleinwüchsigen Nadelbäumen über hügeliges Terrain. Dann erreichen wir die Ebene, in der Dutzende Rentiere verweilen. Hier warten Heaikas Onkel und ein Großcousin, um die Gäste an einem normalen Freiluftarktistag teilhaben zu lassen.
Alle drei sind Samen, gehören also zu den Ureinwohnern Lapplands. Das Volk ist auch in Schweden, Finnland und Russland beheimatet. Über Generationen hinweg waren Familien voneinander getrennt – durch willkürliche Grenzen, die sie nie gezogen hätten. Diskriminierung war bis vor wenigen Jahrzehnten an der Tagesordnung. Auch in Norwegen.
Heute genießen die Samen weitgehende Autonomie, Parlamentssitz ist Karasjok. Und Heaika und seine Familie sind stolz, Besuchern ihre Traditionen nahe bringen zu können. Oft ist es wie an diesem Tag: Ein Leben ohne Zivilisationsgeräusche und, an windstillen Tagen, auch ohne Naturgeräusche. Die Rentiere bleiben auf Distanz. Nur das Knistern des Lagerfeuers durchbricht die Stille.
Über den Flammen erhitzt Heaika eine kräftig gewürzte Suppe mit reichhaltiger Rentiereinlage. „Hier höre ich nie jemanden über Stress klagen“. Auch er selber jammert nicht, obwohl er diese Nacht erst um 4 Uhr im Bett war. Nach einer Karriere als Journalist für die Hauptstadtblätter und als Programmierer von Webseiten betreibt der knapp 30-Jährige heute eine Soundfirma. Auf dem Rückweg von Kirkenes an der russischen Grenze ist er am Vortag in einen Schneesturm geraten. So ist das in der Arktis.
Während er den Schneeanzug auszieht, weil es ja nur –7 Grad sind, plaudert er noch ein bisschen weiter: „Ja, in meiner Generation haben wir nicht mehr viele Nachteile, weil wir Samen sind.“ Er selbst reise und arbeite in halb Europa. „Aber wenn die Familie ruft, lasse ich alles stehen und liegen.“ So wie in jedem Jahr während der Wanderung der Rentiere. Die Herden ziehen jeden Sommer über mehrere Hundert Kilometer zu den Dörfern an der Küste.
Schon am frühen Nachmittag bricht der Abend herein. Liv hat uns mittlerweile ins Anwesen ihres Vaters Sven geführt. Ein paar Kilometer außerhalb von Karasjok unterhält dieser eine Husky-Farm mit angegliederter Pension, die sich schnell als Designhotel entpuppt: Mit aus Baumstämmen gefertigten Stühlen. Mit Rentierfellen als Decken. Mit Tierhäuten als Lampenschirmen. Und mit Geweihen als Geschirrtuchhalter. Alles hier hat Sven in Handarbeit persönlich hergestellt. Besonders schön, sagt Liv, sei ein Aufenthalt hier kurz vor Beginn der Mitternachtssonne im Mai. „Dann ist es hier schon durchgehend hell. Und nachts wird der Schnee noch einmal so griffig, dass wir im Bikini langlaufen gehen.“
Wir versuchen uns am folgenden Tag an einer anderen Sportart: Eis-Minigolf. Austragungsort des Championats ist das Thon-Hotel in Kautokeino, der mit 3000 Einwohnern zweiten „Metropole“ der Samen. Die neun in einer Iglu-Siedlung angelegten Bahnen verlangen auch Feinmotorikern alles ab. Wer die beste Platzrunde notiert, darf sich zugleich als inoffizieller Weltrekordler feiern lassen. Angeblich gibt es auf diesem Planeten keinen vergleichbaren Parcours.
Ungewöhnlich ist auch das benachbarte Kino. Zum Kurzfilmfestival fahren die Besucher mit dem Motorschlitten in die aus Schnee gefertigte Arena. Während wir – abermals in Thermoanzüge gehüllt – auf Logenplätzen platznehmen, flimmert über die Kristalle der Eisleinwand ein Trickfilm aus Scherenschnitten, der mit samischen Motiven und Mythen spielt.
Auf dem Weg zurück in die Küstenstadt Alta dann wollen wir in einer anderen dieser vergänglichen Wunderwelten übernachten. Bevor wir das Sorrisniva Ice Hotel betreten, werden wir Zeugen des arktischen Kampfes: Vor einer eisfreien Stelle in einer Stromschnelle des Alta River lauern zwei Grauadler auf Beute – in diesem Fall wird es ein Lachs.
Bald stehen wir inmitten einer Eishöhle, die zu dieser Stunde lediglich von den Skulpturen norwegischer Könige und anderer nordischer Ikonen bevölkert wird. Wir besichtigen die Hochzeitskapelle mit Eis-Altar und werfen einen wehmütigen Blick auf die eingefrorenen Rosen, die von der letzten Trauung übrig geblieben sind. Später lassen wir uns einweisen in die kleine Suite, in deren Mitte ein aus Schnee geformtes Bett thront. Danach genehmigen wir uns an der Bar einen Drink: Einen Isbjørn – Wodka mit Blue Curacao, serviert in einem Glas aus kristallklarem Eis.
Mit dem Cocktail trinken wir uns Mut an, denn nun geht es zur finalen Herausforderung – eine Hundeschlittentour. Auf einem Hof, der großen Wert auf die aktive Beteiligung der Passagiere legt. In diesem Fall bedeutet das: Wir suchen uns fünf Huskys selber aus, begleiten diese zu unserem Gefährt und legen die Geschirre selber an. Ein Fahrgast nimmt in einer Art Schale Platz. Der andere steht dahinter auf die Kufen des Schlittens.
Nach einer knappen Einweisung geht es los: Die Hunde zerren kraftvoll an den Leinen, der Schlitten nimmt Fahrt auf. Der Pilot muss ständig korrigieren, durch die Verlagerung des Körpergewichts aber gelingt die Fahrt durch die kurvenreiche Waldstrecke. Nun befinden wir uns auf einem zugefrorenen See. Die Tiere scheinen wie entfesselt. Die angebliche Bremse aber will nicht recht funktionieren, weil sich unter den massiven Schuhen eine dicke Schneeschicht angesammelt hat, die ihre Betätigung schwierig macht. Erst nach akrobatischen Bewegungen bei hoher Geschwindigkeit sind die Unterseiten der Sohlen wieder so frei, dass diese gezielt für eine Bremsbewegung eingesetzt werden können.
Das Vertrauen zu den Huskys wächst von Minute zu Minute. Bald schon denken wir: Wow, das ist die beste Methode, dieses seltsam schöne Land zu erfahren. Vielleicht kommen wir eines Tages wieder. Dann brechen wir im Dunkeln auf. Und ganz bestimmt werden wir dann auch die weißlich-grünen Lichtschlieren sehen, die als Aurora Borealis bekannt sind.
Anreise. SAS bietet von den meisten deutschen Flughäfen Verbindungen nach Alta an. Fast alle führen über Oslo, manchmal ist auch ein zweites Umsteigen in Tromsø erforderlich. Auch Norwegian bedient die Strecke von Oslo nach Alta mehrmals täglich. Nach aktuellem Stand jedoch fliegt die Airline im Winter lediglich von Berlin und München nach Oslo.
Unterkunft. Thon Hotel Kautokeino: Ein modernes Haus der norwegischen Kette. In den Wintermonaten wird draußen die weltweit einzige Eisminigolf-Halle aufgebaut, außerdem gibt es ein Open-Air-Kino mit Eisleinwand und eine Eis-Bar.
Sorrisniva Igloo Hotel: Die Übernachtung in den konstant zwischen –4 und –7 Grad kalten Suiten ist ein frostiges Erlebnis. Wer sich jedoch in Wollunterwäsche einmal in den Daunenschlafsäcken befindet, kann es durchaus wonnig warm bekommen. Die ÜN mit Frühstück, Sauna (ab 7 Uhr morgens) und ggf. Bustransfer nach und von Alta kostet um die € 250.
Polarlichtjagd. Abendliche Touren mit Trygve Nygard und seiner Firma Glød. Touren dauern viereinhalb bis sechs Stunden, die Teilnahme kostet knapp € 180.
Ein Tag mit einer samischen Familie. Die Tour ist buchbar über Liv Engholms Firma Turgleder Preise auf Anfrage. Hier sind auch Hundeschlittentouren und mehrtägige Skilanglauf-Abenteuer buchbar.
Hundeschlittentour. Northern Lights Husky bietet Hundeschlittentouren bis zu fünf Tagen Dauer an. Die kürzesten sind ab etwa € 140 p. P. buchbar.
Infos. www.visitnorway.de