Lübecker Marzipan
Lübecker Marzipan muss aus Lübeck kommen. Gerade mal sechs Firmen stellen es her. Bei Niederegger, der größten, beginnt Weihnachten im August. Text: Franz Lerchenmüller
Konditorin Barbara Witte ist die Geduld in Person. Ja, ein bisschen Übung brauche es schon, um so ein Krokodil aus Marzipan zu formen. Sie habe es während ihrer Ausbildung richtiggehend lernen müssen. Und, nein, abends zuhause esse sie kein Marzipan, sondern ziehe eine Pizza vor. Und, sicher, die Arbeit hier oben im zweiten Stock des Stammhauses der Firma Niederegger mache ihr immer noch Spaß. Dann formt sie ein paar weitere grüne Schuppen und verpasst dem gelben Drachen eine rote Weihnachtsmütze, während Kinder sich um ihren Tischdrängeln.
Der Salon, in dem die fröhliche junge Lübeckerin ihr Handwerk vorführt, ist in dunklem Rot gehalten und beherbergt auch ein kleines Marzipanmuseum. In Vitrinen stehen historische Model aus Schwefel, ein Stadtplan verzeichnet alle Marzipanhersteller in Lübeck seit 1795 und auf zwölf Bildtafeln erzählt Johann Georg Niederegger, der im Jahre 1800 aus Ulm nach Lübeck kam, die Geschichte des Marzipans.
Blickfänger aber ist ein Tisch, an dem sich zwölf lebensgroße, bleiche Figuren wie zum Abendmahl versammelt haben. Der Bildhauer Johannes Kiefer hat sie geschaffen, aus 500 Kilogramm Marzipan. Zarenmutter Louise Charlotte ist dabei, Jakob Christoph von Grimmelshausen, Wolfgang Joop und Thomas Mann. Was sie verbindet? Ihnen allen wird eine gewisse Affinität zu Marzipan nachgesagt.
Zwei Etagen tiefer herrscht Hochbetrieb. Im Verkaufsraum glitzern die süßen Sünden in grünem Stanniol, rotem Blech und nachtblauem Karton. Es gibt Weihnachtsmänner und Nussknacker, Engel und Schornsteinfeger. An die 200 Artikel werden extra für Weihnachten hergestellt. Dazu kommen die rund 300, die es das ganze Jahr über gibt: Marzipanbrote, Marzipanwürste, Marzipanbananen…
Lübeck gilt als die Heimat des Marzipans: Sechs Firmen stellen die beliebte Leckerei her. Niederegger, das Familienunternehmen in siebter Generation, hat es sogar geschafft, dass sein Name fast zum Synonym für Marzipan wurde. Nur was direkt aus der Hansestadt kommt, darf sich auch Lübecker Marzipan nennen. Marzipanrohmasse besteht aus bis zu zwei Dritteln Mandeln und bis zu 35 Prozent Zucker. Wer “Lübecker Edelmarzipan” produzieren will, darf zur Rohmasse noch einmal zehn Prozent Zucker hinzufügen. Gibt er sich mit “Lübecker Marzipan” zufrieden, dürfen es sogar 30 Prozent sein.
“Erfunden” wurde das “Haremskonfekt”, wie Thomas Mann es nannte, im Vorderen Orient. “Matzapanen” hießen die Schachteln, in denen kandierte Früchte nach Venedig geliefert wurden, den Inhalt nannte man bald “Mazaban”. Über Venedig fand Marzipan im 13., 14. Jahrhundert seinen Weg nach Mitteleuropa. Ein teurer Stoff war es, der die, die ihn kosteten, an die Freuden des Paradieses erinnerte: Bald galt Marzipan als Aphrodisiakum, dann als Kraftnahrung, schließlich als Herzmittel. Nur Apotheker und Klöster durften es herstellen.
Der allmählich einsetzende Handel mit Amerika machte Zucker billiger. In Frankreich entstand der neue Beruf des Zuckerbäckers. Einige dieser “Canditoren” wanderten nach Deutschland aus. Kneteten Konfekt. Zogen Zucker. Modellierten Marzipan. Als man zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckte, dass sich Zucker auch aus Rüben sieden lässt, kamen plötzlich Standortvorteile zum Tragen: Orte mit Hafen und Zuckerrüben-Hinterland konnten Süßes preiswerter produzieren. Städte wie Königsberg an der ostpreußischen Küste etwa. Oder Lübeck am Rande Mecklenburgs.
Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Walz- und Mandelreibmaschinen auf, erste kleine Marzipanfabriken entstanden. Man erdachte bunte Etiketten zur Verkaufsförderung:
Seht den dicken Herrn Magister, warum ist er wohl so dick? Marzipan in Mengen ißt er, aus der Marzipanfabrik.
Wenn die Lichter auf den Weihnachtsmärkten angehen, wird es in der Niederegger-Fabrik schon wieder ruhig. Die Produktion der Weihnachtsartikel beginnt bereits vier Monate früher. Während draußen die Spätsommersonne niederbrennt, drehen sich in der heißen, lauten Produktionshalle die Röstkessel. Denn ob Glücksschwein, Seehund oder Mini-Kartoffel – am Anfang jeder Marzipanfigur steht die Rohmasse.
Alles beginnt mit der Brühmaschine. Sie besprüht die Mandeln mit Wasserdampf und rüttelt sie, bis die Häutchen abfallen. Auf der Mischwaage werden Zucker, Mandeln, Wasser und Sirup zusammenschüttet und durch Walzen gefahren. Es folgt der wichtige Röstvorgang: Jeweils 100 Kilo der körnigen Masse werden in einem kupfernen, rotierenden Kessel geröstet – solange, bis die Zuckerkristalle geschmolzen sind. Irgendwann jetzt fügt jemand das “Süße Geheimnis” hinzu, jene seit Generationen überlieferte, geheimnnisvolle Ingredienz, die den Stoff angeblich so unverwechselbar macht. Man munkelt von Rosenöl, oder auch von einem sehr alten Werbetrick…
Männer in weißen T-shirts kippen den festen, hellen Brei in die Wannen der Kühlanlage. In den Lagerhallen wird das abgekühlte Marzipan maschinell geformt, mit Schokolade überzogen und verpackt. Besondere Stücke aber stellen die Mitarbeiterinnen auch heute noch mit Models von Hand her. Im oberen Stockwerk sitzen fünf Frauen um einen Tisch und klopfen Weihnachtsmänner, Holstentore und Hamburger Rathäuser aus Reliefformen. Die sind nun nicht etwa fertig, sondern müssen noch “geschminkt” werden. Kolleginnen, vor denen Tellerchen voll Farbe stehen, tragen mit Pinseln Lebensmittelfarbe auf: Augenbrauen und Mund, Mütze, Mantel und Sack.
Marzipan kosten dürfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übrigens so viel sie wollen. Doch nach einigen Tagen, sagen die Damen, nehme bei den meisten die Lust auf Süßes dramatisch ab. Man müsste es vielleicht mal ausprobieren.
Niederegger Lübeck: Stammhaus, Cafe, Marzipansalon
- Breite Straße 89, 23552 Lübeck
- 0451 5301 126
- Mo-Fr 9-19 Uhr | Sa 9-18 Uhr | So 10-18 Uhr
- www.niederegger.de
Fabrikverkauf:
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- info@niederegger.de